Stadt, Land, Verkehrsfluss - Der Stand der Mobilitätswende

Mehr Straßen? Mehr Verkehr! Besser, wir verteilen den öffentlichen Verkehrsraum gerechter.

Wir befinden uns im Jahr 2023. Die Straßen in ganz Europa sind vom Tempolimit besetzt. In ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Teutonen bevölkertes Land hört nicht auf, der Freiheitsberaubung per Straßenschild Widerstand zu leisten. Denn der Deutschen Liebling bleibt ihr Auto. Und wo soll man das bitte so richtig ausfahren, wenn nicht auf der Autobahn?

Nun, unsere niederländischen Nachbar:innen haben das Tempolimit 2020 sogar noch weiter gesenkt. Tagsüber ist dort nur noch Tempo 100 erlaubt. Und was sagen die Bürger? „Danke“. Dabei befürwortete ursprünglich noch nicht einmal die Hälfte die Senkung. Mittlerweile haben sich in einer Befragung 60 Prozent dafür ausgesprochen, das Tempolimit sogar auf 90km/h zu senken. Auch hierzulande spricht sich in Umfragen die Mehrheit für ein Tempolimit auf Autobahnen aus. In einer Erhebung des Umweltbundesamts 2021 befürworteten das beispielsweise 42 Prozent „auf jeden Fall“ und 22 Prozent „eher ja“. Für das FDP-geführte Verkehrsministerium ist ein Tempolimit allerdings unvorstellbar.

Anders als auf der Autobahn stößt der Gedanke an ein Tempolimit im Stadtverkehr bei der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Etliche Städte prüfen derzeit, wie sie alternative, menschenfreundlichere Verkehrskonzepte umsetzen können, stoßen allerdings auf lauten Widerstand. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens sollen noch mehr Autostraßen her und auf keinen Fall etwa Tempo 30 in Innenstädten. Dann bräuchten ja alle für ihren Weg noch länger. Und gerade in ländlichen Regionen mit schwach ausgebauter ÖPNV-Infrastruktur brauch man selbstverständlich sein Auto. Wie soll die 90-jährige Oma denn sonst zum Arzt kommen? Ideen gäbe es genug, zum Beispiel On-Demand-Shuttle, Stadtbusse, eine generell engmaschigere ÖPNV-Taktung.

Und da landen wir bei einem Henne-Ei-Problem: Menschen nutzen ihr Privatfahrzeug, weil der ÖPNV schlecht getaktet ist und mitunter nach 19 Uhr gar nicht mehr fährt. Und die ÖPNV-Anbieter wollen die Taktung nicht dichter und länger setzen, weil die Verbindungen nicht ausgelastet sind. Die Frage also bleibt: Wie kann man Autofahrer:innen davon überzeugen, ihr Fahrzeug stehenzulassen?

Derweil hat die Senatsverwaltung in Berlin alle Bezirke aufgefordert, laufende Radwegprojekte zu stoppen. „Es sollen alle Projekte vorübergehend ausgesetzt werden, die auch nur einen Autostellplatz gefährden oder den Wegfall von einem oder mehr Fahrstreifen zur Folge haben“, heißt es im Tagesspiegel. Mobilität der Zukunft bedeutet für viele Diskutant:innen also „Auto, Auto, Auto“ – mal mit nachvollziehbaren, mal mit fadenscheinigen Argumenten.

Mobilität der Zukunft und der öffentliche Diskurs

Wie stellt sich die Lage rund um Mobilität nun im öffentlichen Diskurs dar? Was sagen die Medien? Liest man möglicherweise von den Möglichkeiten einer schönen neuen Welt mit Alternativen? Die traurige Antwort: Viel zu selten. Der Großteil der Berichterstattung rund um Fortbewegung im öffentlichen Raum dreht sich weiterhin rund um Autos in jeglicher Form. Verbrenner stehen zwar vor dem Aus mit Hintertürchen, aber Dank E-Fuels, Wasserstoff oder anderer, noch nicht erfundener Treibstoffe, sehen viele Journalist:innen das Auto weiterhin als zukunftstauglich, wenn nicht alternativlos. Elektro-Autos werden derweil zwar beliebter, stehen allerdings immer noch unter der kritischen Beobachtung der Traditionalist:innen. Übliche Totschlag-Argumente sind etwa die fehlende Reichweite und das ausbaubedürftige Ladenetz.

Technik-affine Menschen verfolgen möglicherweise die Entwicklungen rund um autonom fahrende Autos. Die Schlagzeilen vermelden hier wechselweise einen anstehenden Durchbruch – sehr bald, wirklich – oder das Aus des vollautonomen Fahrens, mindestens für ein Jahrzehnt. Vielversprechende Projekte sind bislang nicht skalierbar und fahrerlose Straßenfahrzeuge bleiben bislang eine Zukunftsvision. Selbst Optimist:innen glauben vorerst lediglich an einen limitierten Einsatz von autonomen Fahrzeugen. In geschlossenen, nicht-öffentlichen Verkehrssystemen, etwa in Warenlagern oder Shuttleflotten auf Messegeländen sowie Flughäfen, können diese einen echten Mehrwert bieten.

Seltener liest man von anderen Verkehrsmitteln. Von E-Bikes, zum Beispiel – insbesondere, wenn wieder jemand auf die erhöhte Unfallgefahr für unerfahrene Radler:innen hinweisen möchte. Oder von Lastenrädern, die ob ihrer Größe in den Städten für Parkplatzprobleme sorgen können. Und natürlich von E-Scootern, die mittlerweile aus einigen Großstädten wieder rausfliegen. All diese negativen Botschaften kommen bei den Leser:innen an und suggerieren die Untauglichkeit dieser Verkehrsmittel, ihren Teil zu der zukünftigen Mobilität beizutragen.

Die Deutsche Bahn ist international ein Objekt des Spottes.

Daniel Junglas, Oseon 

Und dann wäre da noch der Zustand des deutschen Schienenverkehrs, den Kommentator:innen und Kolumnist:innen gerne heranziehen, wenn die Bahn wieder einmal streikt: Die Netze sind überlastet, es gibt wörtliche und metaphorische Baustellen an allen Ecken und Enden. Kaputte Waggons und fehlende Kapazitäten für Reparatur und Wartung sind die Regel. Die Deutsche Bahn ist ein internationales Objekt des Spottes.

So kann man doch nur zu einem Schluss kommen: In Deutschland geht es nur mit Auto! Oder?

Einigkeit und Recht und freie Fahrt

Im Sommer 2022 passierte in Deutschland etwas, von dem die kühnsten Futurist:innen kaum zu träumen gewagt hatten. Jeder Mensch durfte für neun Euro im Monat den gesamten öffentlichen Personennahverkehr im ganzen Land nutzen. Das Ticket konnte man unkompliziert per App, am Schalter oder am Automaten kaufen. Für drei schöne Monate waren Regionalzüge, U-Bahnen und Straßenbahnen gefühlt die Transportmittel Nummer Eins.

In dieser Zeit zeigte sich, welche Rolle der Schienenverkehr in Zukunft spielen könnte. Die Nachfrage war so hoch, dass sich mittlerweile das Deutschlandticket als dauerhafte Einrichtung etabliert hat. Das kostet zwar mehr als das Fünffache und hat diverse bürokratische Hürden – ist allerdings trotzdem ein Fortschritt, den man sich vor 2022 kaum hatte vorstellen können: Ein Ticket für ganz Deutschland, das die Komplexität des deutschen Verkehrsverbundflickenteppichs auflösen konnte. Zu einem Preis, der deutlich niedriger ist als etwa eine Monatskarte für längere Strecken innerhalb eines Verkehrsverbundes.

Die grundlegenden Herausforderungen im Schienennetz bleiben natürlich vorerst bestehen: Die Zugflotte ist teilweise veraltet, die Infrastruktur störungsanfällig und die Kapazitäten schon jetzt kaum ausreichend. Einen Schritt, um zumindest Verspätungen zu reduzieren, hat die Deutsche Bahn gerade angekündigt: Sie optimiert die Ein- und Abfahrtsplanung künftig mit einer KI-Lösung. Das soll bis zu 8 Minuten pro Fahrt einsparen. Der Ausbau des Schienennetzes ist in Arbeit, wird jedoch noch dauern. Eine größere Flotte und engmaschigere Wartungen könnten dabei helfen, die Zugverspätungen und -ausfälle aufgrund von Defekten zu reduzieren. Derzeit ist die Fahrtenplanung so auf Kante genäht, dass jeder ausfallende Waggon zu überfüllten Zügen führt und Wagen noch fahren, die längst in Reparatur gehörten. Ein modernisierter Schienenverkehr bietet dann wieder eine echte Alternative für die Zukunft.

Ein neues Denken braucht das Land

Städte sind in Sachen Mobilitätswende häufig Vorreiter, denn hier finden sich im Gegensatz zu ländlichen Gegenden tatsächlich zahlreiche Möglichkeiten der Fortbewegung. In der Stadt muss man kein Auto mehr besitzen. Für kurze Strecken, zum Einkaufen und für Ähnliches bietet sich ein Fahrrad, E-Bike oder Lastenrad an, die häufig als Ride-Sharing-Angebot verfügbar sind. Muss es doch mal ein Auto sein, kann man sich das ebenfalls über einen Ride-Sharing-Dienst buchen. Auch diese setzen mittlerweile auf eine wachsende Flotte an E-Autos. Und ansonsten ist der ÖPNV üblicherweise durchgängig gut ausgebaut.

Wir brauchen einen echten Anreiz, um Menschen zum Umsteigen auf alternative Verkehrsmittel zu bewegen.

Daniel Junglas, Oseon

Was aus meiner Sicht in der Diskussion über die Mobilität der Zukunft fehlt: Mehr Ideen und Impulse, die den Menschen das Umsteigen erleichtern. Hier wäre mehr Kreativität dringend nötig, um eine echten Anreiz zu schaffen, Alternativen zu nutzen. Die Stadt Darmstadt ist hier etwa vorangegangen und belohnt seit 2022 Menschen, die ihr Auto abmelden, mit einem dreimonatigen ÖPNV-Ticket für den Großraum Darmstadt.

Einfachheit ist ebenfalls immer ein guter Motivator. Wie schön wäre etwa eine Anwendung, mit der man jedes Verkehrsmittel an einer Stelle buchen und bezahlen kann? Das Deutschlandticket ist ein guter erster Schritt, aber warum damit aufhören? Ebenso hilfreich wäre ein Dienst, der verkehrsmittelübergreifende Echtzeitdaten darstellt. Damit man nicht nur sieht, ob der Zug 20 Minuten verspätet ist, sondern ob man wirklich schneller ist, wenn man das Auto nimmt – weil auf der Strecke gerade Stau ist. Oder ob man sich nicht lieber ein Rad am Bahnhof ausleihen möchte, weil das der schnellste Weg wäre, ans Ziel zu kommen.

Und schließlich wäre es wünschenswert, von dem gedanklichen Mantra „Autos first“ wegzukommen. Die Verkehrsforschung hat längst belegt, dass mehr Spuren und größere Straßen nicht zu einem besseren Verkehrsfluss führen. Breitere Straßen locken noch mehr Menschen in die Autos mit der Illusion, schneller voranzukommen. Am Ende stehen dadurch einfach nur mehr Fahrzeuge im Stau. Eine weitere Herausforderung, insbesondere in engen Alt- und Innenstädten: Die Autohersteller bauen ihre Fahrzeuge immer größer. Diese besetzen dadurch öffentlichen Raum, den man anderweitig nutzen könnte. Einige Autos sind beispielsweise schlicht zu breit für einen vorhandenen Parkplatz und belegen deshalb gleich zwei. Optional blockieren sie Gehwege, weil sie deutlich länger sind als die Parkplätze. Menschen mit Kinderwagen oder Rollator müssen auf die Straße ausweichen.

Viele Städte in Deutschland und Europa prüfen nun, wie fließender Verkehr ohne Abstriche in Sachen Wohn- und Lebensqualität gelingen kann. Einige haben so ehemals stark befahrene Autostraßen in kleine Oasen verwandelt. Es lohnt sich, diese Projekte einmal näher zu beleuchten. Um autofreie Alternativen aufzuzeigen und „im Kopf umzuparken“. Denn dann kann das ganze teutonische Land am Ende gemeinsam feiern.

Titelbild: Denys Nevozhai auf Unsplash

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