Bionik und Bioengineering – Natürliche Inspiration für nachhaltige Innovation

Was haben Salzstreuer, Regenjacken und Hubschrauber gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, doch für all diese Produkte haben sich Menschen Ideen aus der Natur geholt. Bionik und Bioengineering sind die Disziplinen, die das möglich machen. Sie helfen, Materialien effizienter einzusetzen, Ressourcen zu schonen und umweltfreundlichere Technologien zu entwickeln. Wir werfen einen Blick auf dieses vielfältige Zukunftsthema, das über viele Branchen hinweg Auswirkungen auf unser tägliches Leben und die Gesellschaft hat. 

Einer, der schon früh verstand, dass die Natur ein elegantes Vorbild für Erfinder:innen sein kann, war Leonardo da Vinci. Doch dazu gleich mehr.

Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (…), doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, ökonomischer und geradliniger wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts, und nichts ist zu viel.

 

Leonardo da Vinci, Künstler und Universalgelehrter

Die Evolution ist eine Erfolgsgeschichte der Anpassungsfähigkeit. Seit unser Planet existiert, gibt es immer wieder Ereignisse, die zu einer drastischen Veränderung der Umwelt und der (Über-) Lebensbedingungen führen. Alle lebenden Organismen waren vollständig den Gegebenheiten der Natur unterworfen. Survival of the fittest. Des Stärksten? Nein, wohl eher des Anpassungsfähigsten.

Nur durch Anpassung ist es Lebewesen möglich, in großen Höhen, in der Tiefsee oder abseits von Lichtquellen zu überleben. Oder sich dort sogar besonders wohl zu fühlen. Zu Beginn seiner Entwicklung blieb auch dem Menschen nichts anderes übrig, als sich den natürlichen Gegebenheiten zu fügen. Doch auch unser Gehirn hat sich weiterentwickelt. Und heute ist es uns möglich, die Natur an unsere eigenen Wünsche, Vorlieben und Bedürfnisse anzupassen. Aber: Neue Technologien und Möglichkeiten führen auch zu neuen Problemen. Um diese zu lösen, bedient sich der Mensch nun wiederum bei der Natur, die für viele unserer Herausforderungen bereits eine Idee parat hat.

Bionik, Bioengineering – Was ist das eigentlich?

Der amerikanische Luftwaffenmajor Jack E. Steele verwendet den Begriff "bionics" zum ersten Mal auf einer Konferenz in Ohio im Jahr 1960. Im englischen Sprachraum beschränkt sich der Begriff "bionic" in der Regel auf die Konstruktion von Körperteilen oder auf die Kombination von Biologie und Elektronik. Sprechen wir im Deutschen von Bionik, passen im Englischen heute eher Begriffe wie "biomimetics" oder "biomimicry". 

Der deutsche Begriff Bionik setzt sich aus den Wörtern Biologie und Technik zusammen. Die Bionik ist eine noch recht junge, interdisziplinäre Wissenschaft und Designmethode, die sich von der Natur inspirieren lässt, um Lösungen für menschliche Herausforderungen, Technologien, Innovationen und Produkte zu finden. 

Als Bioengineering bezeichnet man die Anwendung der aus der Bionik gewonnenen Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Lösungen und Verfahren.

Leonardo da Vinci: Diagram of a proposed flying machine (1789)

Ein Pionier der Bionik war Leonardo da Vinci. Der italienische Universalgelehrte wendete bereits 1505 in seinem Manuskript „Über den Vogelflug“ seine Beobachtung von Vögeln und Fledermäusen an, um Flugmaschinen zu entwerfen. Da Vinci kreierte außerdem einen Hubschrauber – als Vorbild diente ihm die spiralförmige Frucht des Schneckenklees (Medicago Orbicularis).

In Deutschland meldete Raoul Heinrich Francé die erste bionische Erfindung im Jahr 1920 an. Er orientierte sich für den Entwurf eines Salzstreuers mit seitlichen Öffnungen an der Samenkapsel von Mohnpflanzen. Ein weiteres klassisches Beispiel, das wohl jeder schon genutzt hat: Der Klettverschluss. Der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral musste nach Jagdausflügen immer wieder mühsam die Kletten aus dem Fell seines Hundes entfernen und ließ sich davon inspirieren. 1948 übertrug er das Prinzip biegsamer Widerhaken und heute nutzen wir es im Alltag an Schuhen, Jacken oder Rucksäcken.

Wie moderne Bionik unser Leben verändert 

Die moderne Bionik ist eine faszinierende und branchenübergreifende Disziplin. Nicht immer sind die innovativen Lösungen für komplexe technische Herausforderungen so offensichtlich wie bei Flugzeug und Klettverschluss.

1. Meereswunder und Pflanzengeheimnisse: Ideengeber im Oberflächendesign

Ein prominentes Beispiel für Oberflächendesign ist der Lotuseffekt, den der deutsche Botaniker Wilhelm Barthlott Mitte der 1970er Jahre entdeckte. Der Lotuseffekt beschreibt das wasserabweisende Verhalten und die Selbstreinigungsfähigkeit pflanzlicher Oberflächen. Benannt nach der Lotusblume, dient der Lotuseffekt in vielen Branchen als Inspiration, zum Beispiel für wasserfeste Kleidung, schmutzabweisende Lacke oder selbstreinigende Glasfenster.

Viele Innovationen im Oberflächendesign entstammen dem Meer. „Antifouling-Farben“ wurden beispielsweise nach dem Vorbild von Delfinhaut entwickelt, die durch ihre physikalischen Eigenschaften vom Befall durch Muscheln, Algen und Seepocken verschont bleibt. Die Farben bieten denselben Effekt für Schiffe, verringern somit den Reibungswiderstand im Wasser und dadurch auch den Treibstoffverbrauch.

Die Hautschuppen von Haien bringen den Menschen ebenfalls Vorteile: Durch die feingerillte Haut, die sich ein wenig wie Sandpapier anfühlt, verringert sich die Reibung. Das sorgt dafür, dass die Fortbewegungsgeschwindigkeit erhöht und der Energieaufwand verringert werden kann – Eigenschaften, die bei der Fertigung von Schwimmanzügen für Hochleistungssportler:innen imitiert werden. 

Selbst in der Luftfahrt lässt man sich von Haien inspirieren. Ein Team von Ingenieur:innen aus Deutschland, der Schweiz und den USA hat mit AeroSHARK eine widerstandsfähige Folie entwickelt, die den Luftstrom über den Außenrumpf von Flugzeugen optimiert. Die Luft wird effizienter am Flugzeug vorbeigeleitet, der Luftwiderstand somit verringert. Das senkt den Treibstoffverbrauch und den CO2-Ausstoß erheblich. Wird die Folie an den Tragflächen angebracht, sorgt sie außerdem für zusätzlichen Auftrieb, sodass das Flugzeug effizienter in der Luft bleiben kann – eine Eigenschaft, die auch bei Drohnen und Windrädern zum Einsatz kommt.

2. Bauen und Architektur – Wie Termitenhügel und Knochen die Gebäudetechnik revolutionieren

Im Bereich der Bau- oder Architekturbionik werden natürliche Phänomene bei Architektur und technischen Funktionen von Gebäuden angewendet. So kamen zum Beispiel beim Bau des Stuttgarter Flughafens spezielle Träger zum Einsatz, die als sehr filigrane Konstrukte nach dem Vorbild eines Waldes entstanden sind. Sie sollen ein leichtes Flächentragwerk mit geringstmöglichem Materialaufwand abstützen.

Der Eiffelturm in Paris ist ein prominentes Beispiel für eine spezielle Leichtbauweise, die sich am Knochenbau des Menschen orientiert. Der Ingenieur Gustave Eiffel nahm sich im 19. Jahrhundert den Längsschnitt eines Knochens zum Vorbild: Viele kleine Knochenbälkchen stabilisieren dort, wo Belastungen auf das Gewebe einwirken. Das so entstehende Stützsystem kann nicht nur sehr materialsparend nachgebaut werden, es ist außerdem sehr widerstandsfähig gegenüber Druck und Zugkräften von außen, wie das stattliche Pariser Wahrzeichen eindeutig zeigt. Nur gegen Rost schützt es leider nicht.

Auch von den Kleinsten können wir lernen: Für Lüftungselemente von Bürogebäuden haben sich Architekt:innen den Aufbau von Termitenhügeln näher angeschaut. Werden Luftschächte so angelegt, dass sie ähnlich wie in einem Termitenbau zusammenhängen, können Gebäude fast ohne Heizung und zusätzliche Belüftungsanlage auf einer konstanten Innentemperatur gehalten werden.

3.  Bioinspiration für Verpackung und Verbundmaterialien 

Ein Krebs, der in den Tropen vorkommt, besitzt eine extrem harte Schutzschicht in seinem Panzer und hält selbst heftigsten Krafteinwirkungen stand. Dieser Panzer besteht aus drei Schichten – ein Aufbau, der für ein besonders hartes, riss- und bruchsicheres Material, zum Beispiel in Schutzkleidung, nachempfunden wurde.

Außerdem dient die Natur als Inspiration für umweltfreundliche Verpackungsmaterialien, die in Zeiten der Klimakrise zur Alternative für Plastik werden könnten. Dabei wird zum Beispiel die Rinde von Bäumen untersucht, die durch ihre faserige Struktur mit vielen Hohlräumen, ihr geringes Gewicht, einen hohen Tannin-Gehalt zur Abwehr von Schädlingen, Wärme- und Kälteresistenz sowie den Schutz vor ultravioletter Strahlung ein echtes Naturwunder darstellt.

Auch Nuss- und Eierschalen sind spannende natürliche Verpackungssysteme, die Wissenschaftler:innen auf der Suche nach nachhaltigen Verpackungsmaterialien genau unter die Lupe nehmen.

4.  Bionik in der Biomedizin: Von bionischen Prothesen bis zur Spinnenseide

Die Beobachtung natürlicher Prozesse hat auch im Bereich der Biomedizin zu zahlreichen Neuerungen geführt. So bieten etwa „bionische“ Prothesen bereits mehr Funktionen als herkömmliche – beispielsweise sensorische Rückkopplungen, erweiterte Bewegungsmöglichkeiten, intuitive Bewegungssteuerung und eine natürlichere Kosmetik.

Am Stuttgarter Flughafen kommen seit 2021 Exo-Skelette des deutschen Herstellers German Bionic zum Einsatz. Sie sind so konstruiert, dass sie die Bewegungen des unteren Rückens unterstützen oder verstärken. Dadurch benötigen die Träger: innen weniger Kraft beim Heben schwerer Lasten – der Rücken dankt!

Spinnen lösen nicht bei allen Menschen Freude aus, liefern uns aber eine weitere Inspiration: Spinnenseide, das Material, aus dem Spinnen ihre Netze weben. Sie ist wasserabweisend, entzündungshemmend, hypoallergen, biologisch abbaubar, 25-mal belastbarer als Stahl, dehnbarer als Nylon, zehnmal dünner als Menschenhaar und dabei dreimal so reißfest wie Kevlar – das Material, aus dem kugelsichere Westen hergestellt werden. Mittlerweile kann Spinnenseide synthetisch hergestellt werden, was einen Durchbruch für die Medizin bedeuten könnte. Das für den Menschen gut verträgliche Material könnte für den Bau verschiedenster Implantate genutzt werden und durch seine entzündungshemmende Wirkung als Verbandsmaterial oder als chirurgisches Nahtmaterial bei Operationen dienen.

Die Zukunft mit Bionik nachhaltig gestalten 

Die Bionik hat das Potenzial, kleine und große Probleme der Menschheit zu lösen: Indem wir die Natur beobachten und von ihr lernen, können wir Mechanismen auf menschengeschaffene Systeme übertragen und hilfreiche Innovationen entwickeln, die weniger Energie, Material oder Treibstoff benötigen und länger halten. Das spart Ressourcen und Kosten­.

Unsere Natur ist dafür eine fantastische Ideengeberin – und die Bionik kann eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer nachhaltigeren Zukunft spielen. Ein echtes Zukunftsthema also, das inspirierende Lösungen hervorbringt und die Art und Weise wie wir die Welt sehen, gestalten und mit ihr umgehen, verändern kann.

 

Bildquellen: "Leonardo da Vinci: Diagram of a proposed flying machine (1789)" by Toronto Public Library Special Collections is licensed under CC BY-SA 2.0.| Anna Sushok, Unsplash | William Wendling, Unsplash 

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