Neurodivergenz am Arbeitsplatz
Das Schuljahr geht zu Ende. Notenschluss und das Kind ist nicht versetzungsgefährdet. Ich habe Wut im Bauch. Weshalb, wenn das doch gute Nachrichten sind? Weil es eigentlich keine besondere Nachricht sein sollte. Weil der einzige Grund, warum für mein Kind schulische Leistungen zur Herausforderung werden und die Versetzung schon wiederholt in Gefahr war, ist: Sie ist neurodivergent.
Für ein Kind mit ADHS und Lese-Rechtschreibstörung (LRS) ist der Schulalltag am Gymnasium eine unfassbare Herausforderung. Wir bilden unsere Kinder in einem System, das – wenn überhaupt – nur rudimentär auf Menschen mit Neurodivergenz eingestellt ist. Unter solchen Umständen ist erfolgreiches Lernen ebenso harte Arbeit wie das Erkennen und Erhalten des Selbstwerts. Jeden einzelnen Tag. Und natürlich denke ich als begleitende Mutter genauso wie meine Tochter auch an die Zukunft: Wird das Abi für das Traumstudienfach reichen? Wie kann das angestrebte Studium gelingen? Wie gestaltet sich später das Arbeitsleben? Und auf der anderen Seite überlege ich als Arbeitgeberin: Wie können wir Teil der Lösung sein statt Teil des Problems? Wie können wir Menschen mit Neurodivergenz auch im Job gerecht werden, so dass sie ohne unnötige Hindernisse das Beste aus sich herausholen können und sich wirklich entfalten?
Ich schreibe diesen Beitrag mit dem Einverständnis meiner Tochter, sogar mit ihrer Ermutigung. Sie findet, wir müssen reden. Die 15-Jährige hat einen langen Weg hinter sich. LRS-Diagnose in der fünften Klasse. Aufgrund der bei Mädchen äußerlich weniger offensichtlichen Symptome folgte die ADHS-Diagnose erst Ende der Achten. Bis dahin hatten die Belastungen des „Anders-Tickens“ bereits ihren seelischen Tribut gezollt. Ein Weg, der je nach Wissensstand und Verständnis der Lehrkräfte teils sehr steinig war und noch ist – und oft zum Verzweifeln. Das muss besser gehen.
Den Umgang mit Neurodivergenz lernen
Meine Tochter ist nicht blöd, hat einen überdurchschnittlichen IQ, einen kritischen, scharfen Verstand und redet jeden an die Wand, wenn sie für etwas brennt. Sie ist kreativ, emphatisch, hat klare Ziele vor Augen. Und dennoch fallen ihr vermeintlich einfache Dinge ungemein schwer:
- sich in einem Raum mit 30 Kindern konzentrieren
- bei der Sache bleiben
- fokussiert der Lehrkraft zuhören
- Gedanken sortieren und strukturiert ausdrücken
- ein Heft ordentlich führen - in Schönschrift
- laut vorlesen
- ein Diktat schreiben
- Vokabeln lernen
- sich systematisch auf eine Woche mit drei verschiedenen Klassenarbeiten vorbereiten
Kind und System passen allzu oft nicht zusammen. Digitale Hilfsmittel wären förderlich, sind allerdings zu selten zugelassen. Alternative Formen der Leistungserbringung wie Projektarbeiten, Referate oder ähnliches sieht der Lehrplan zu wenig vor. Immer wieder fehlen Lehrkräften die nötige Sachkenntnis und das wünschenswerte Feingefühl, um das Kind bedarfsgerecht zu unterstützen. Jedes Schuljahr beginnt von Neuem damit, die Diagnose zu erklären und bei neuen Lehrkräften um Unterstützung und Verständnis werben. Und die Frage „Ach, das ist noch nicht weg?“ mit einem geduldigen „Nein“ zu beantworten.
Neurodivergenz ist gekommen, um zu bleiben – und zwar als lebenslanger Begleiter. Therapiesitzungen, Bewältigungsstrategien und Medikamente helfen, damit umzugehen, doch auch das ist ein langer Lernprozess. Den sowohl die Betroffenen als auch ihr Umfeld angehen müssen. Nun sind wir bei Oseon auch Arbeitgeberin und ich fasse mich an die eigene Nase. Wenn ich mir für mein Kind – für Schule, Studium, Berufsleben – ein Umfeld wünsche, in dem Verständnis, Unterstützung und Förderung eine Selbstverständlichkeit sind, wenn ich mir wünsche, dass sie sich ihren Talenten entsprechend entfalten und wachsen kann, dann muss ich mich fragen: Wie können auch wir als Arbeitgebende unserer Verantwortung besser gerecht werden und ein förderndes Umfeld schaffen?
Was ist Neurodivergenz und wen betrifft sie?
Von Neurodivergenz spricht man, wenn die neurokognitiven Funktionen des Gehirns von der gesellschaftlich vorherrschenden Norm, der sogenannten neurotypischen Funktionsweise, abweichen. Das kann unter anderem die Konzentrationsfähigkeit betreffen, die Art des Lernens, den Umgang mit Sprache, Zahlen oder Gefühlen. Bis zu 20 Prozent aller Deutschen leben mit einer Form von Neurodivergenz. Eine Schätzung, denn die Dunkelziffer der undiagnostizierten Betroffenen ist hoch.
Das ist ein Teil des Problems. Ein weiterer Teil ist die Frage, wer denn die Norm bestimmt, auf die zum Beispiel unser Bildungssystem ausgerichtet ist. Fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren leben aktuell mit einer ADHS-Diagnose, bei etwa 60 Prozent der Betroffenen machen sich die Symptome auch im Erwachsenenalter bemerkbar. Schätzungsweise leben etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland mit ADHS, ohne es zu wissen. Legasthenie betrifft in Deutschland rund 3,5 Millionen Menschen. Der Dachverband Legasthenie Deutschland geht sogar von bis zu zehn Prozent der Bevölkerung aus – das wären etwa 8,3 Millionen.
So können wir Menschen mit Neurodivergenz das Arbeitsleben erleichtern
Ich bin keine Expertin für Neurodivergenz. Aus den Gesprächen mit meiner Tochter, aus dem Beobachten, Miterleben und Mit(er)leiden ihrer Erfahrungen kann ich allerdings Schlüsse ziehen, wie wir unser berufliches Umfeld verständnisvoller und integrativer gestalten können. Damit Mensch und System eben doch zusammenpassen. Ich lerne fortlaufend. Erste Erkenntnisse:
- Neurodivergenz ist kein Makel. Es sollte selbstverständlich sein zu sagen „Ich ticke da anders“, ohne negative Konsequenzen zu fürchten. Weiß ein Team, woran es miteinander ist, schafft das Verständnis und beugt unnötigen Frustrationen vor. Zudem zeichnen sich Menschen mit Neudivergenz oft durch, zum Beispiel, besondere Kreativität, analytische Fähigkeiten oder höhere Empathie aus. Das sind durchaus gefragte Qualitäten, die wir weiter fördern können. Wir sollten gegenseitig mehr Verständnis füreinander aufbringen und genau hinschauen: Wie ticke ich? Wie tickst du? Wie ergänzen wir uns?
- Transparenz hilft. Wir brauchen ein betriebliches Arbeitsumfeld, in dem wir uns eingeladen fühlen, unsere Bedürfnisse zu äußern. Auch im Sinne der Achtsamkeit und mit Blick auf mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Das gilt selbstverständlich für alle im Team, ist allerdings für Menschen mit Neurodivergenz besonders wichtig. Geeignete Leitfragen sind hier: Was brauche ich, um meinen Job optimal machen zu können? Um meine Stärken einzubringen? Um Schwächen auszugleichen? Wie möchte ich mit meinem Team interagieren? Was stresst oder belastet mich unnötig und bremst mich aus?
- Flexible Karrierepfade ermöglichen. Es ist wichtig, lineare Karrierewege mit starren Tätigkeitsbeschreibungen hinterfragen zu können und zu dürfen. Wenn wir den Blick schärfen für die individuellen Qualitäten einzelner Teammitglieder und Teams mit vielfältigen Talenten besetzen, decken wir ein größeres Anforderungsspektrum ab. Fragen, die wir in diesem Zuge beantworten müssen, umfassen beispielsweise: Wie sehen Karrierepfade für Generalist:innen aus? Wie für Menschen mit Inselbegabungen? Wie sehen vertikale und horizontale Entwicklungswege aus? Wie honoriere ich Leistung und ermögliche Aufstiegschancen?
- Die individuellen Ressourcen berücksichtigen. Eine flexible Gestaltung von Arbeitszeit und -ort hilft, individuelle Leistungskurven, Konzentrationsphasen oder nötige Ruhepause abzubilden, um mit den eigenen Ressourcen zu arbeiten. Dazu gehören etwa die Aspekte: Wie lange kann ich mich konzentrieren? Welche Bedingungen brauche ich dafür und welche Hilfsmittel? Wann und wie bin ich besonders leistungsfähig, kreativ, präzise? Großraum oder stilles Kämmerlein? Acht Stunden kontinuierliches Arbeiten oder zwei Stunden Hyperfokus?
Typisch oder divergent? Aufeinander zugehen und Machbares und Grenzen ausloten
Individuelle Karriereförderung und die Selbstverpflichtung, ins Team zu investieren, sind wichtig. Bei Oseon tragen wir dem Rechnung, indem wir uns zum Beispiel mit Jessi die Rolle eines Head of People leisten. Jessi ist mit dem nötigen Gespür, aber auch den zeitlichen und budgetären Ressourcen ausgestattet, auf alle Teammitglieder einzeln einzugehen - soweit es der wirtschaftliche und operative Rahmen des Agenturalltags erlaubt. Denn letztlich sind wir ein Wirtschaftsunternehmen, das funktionieren muss, um solche Möglichkeit anbieten zu können. Dafür müssen alle in der Agentur ihre Arbeit erledigen und Kunden zufrieden stellen. Das Team muss sich aufeinander verlassen können und es braucht ein gewisses Regelwerk an Prozessen und Standards, damit der Laden läuft. Hier heißt es gemeinsam auszuloten, wie viel Individualität und persönliche Bedürfnisse im Alltag berücksichtigt werden können. Als Unternehmen tragen wir Verantwortung für das Wohlergehen unseres Teams und ein gesundes und förderndes Arbeitsumfeld. Umgekehrt trägt jeder und jede im Team natürlich auch persönliche Verantwortung für das eigene Wohlergehen, die eigene Leistungsfähigkeit und das Erfüllen der eigenen Jobbeschreibung. Es ist ein aufeinander zugehen beider Seiten. Und um das zu schaffen, müssen wir reden.
Bildquelle: Die Tochter, gemalt in der Grundschule, als wir vom Thema Neurodivergenz noch keine Ahnung hatten