Kulturwandel: Mehr als nur ein Kickertisch

Immer wieder faszinieren Aufnahmen futuristischer, quietschbunter Büroräume, die mehr Spielwiese als Arbeitsplatz zu sein scheinen. Auch das Duzen zwischen den Mitarbeitern über jede Hierarchie-Struktur hinweg hält Einzug in die traditionell eher förmliche deutsche Unternehmenswelt. „Kulturwandel“ ist angesagt – die großen Online-Konzerne haben es vorgemacht. Kulturwandel erscheint als Allheilmittel, wenn es darum geht, Mitarbeiter zu binden und zu mehr Kreativität und Produktivität zu beflügeln.

Eine kreativitätsfördernde Raumgestaltung und zwanglose Kommunikation unter Kollegen ist absolut erstrebenswert. Doch echter Kulturwandel ist mehr als nur Obst in der Gemeinschaftsküche, stylische Sitzkissen auf Kunstrasen und ein Tischkicker im Foyer.

Ein Kulturwandel umfasst nicht nur das Äußere / Bild: Eloise Ambursley auf Unsplash

Deutsche Unternehmen tun sich allerdings noch sehr schwer, einen wirklichen Wandel ihrer Unternehmenskultur zu vollziehen. Das belegt eine aktuelle Studie der Technologieberatung Bearing Point „Roboter, Rebellen, Relikte: Überkommene Strukturen behindern Digitale Transformation“. Arbeitgebern fällt es leicht, Änderungen zu implementieren, die die Effizienz steigern oder Kosten einsparen. Jedoch wagen nur wenige den Schritt, etablierte Hierarchien und Prozesse so zu ändern, dass Mitarbeiter Freiraum für mehr Kreativität gewinnen. Dabei würde das wiederum zu neuen Geschäftsmodellen, Produkten und Services führen. Dieser Schritt ist allerdings wichtig, um als Unternehmen attraktiv für die Generation Y zu sein und motivierte junge Talente nicht nur anzuziehen, sondern auch zu halten.

Nicht nur Facebook kann hipp

Beim Stichwort „Kulturwandel“ fallen uns zunächst die Milliardenkonzerne aus dem Silicon-Valley ein. Starre Betriebsabläufe und kahle Büroräume gelten dort als Tabu. Jeder Mitarbeiter ist ein klein wenig exzentrisch. Der Blick muss jedoch nicht ans andere Ende der Welt wandern, um funktionierende, zeitgemäße Arbeitsbedingungen zu erleben. Auch viele traditionsreiche und kleinere Unternehmen in Deutschland haben sich den nachhaltigen Kulturwandel auf die Fahnen geschrieben. Als Beispiel tritt hier der Versandhändler Otto ins Licht, der seine Mitarbeiter mit einem frischen Maßnahmenpaket dazu ermutigt, neue Ideen zu entwickeln und vorzustellen. Diese Maßnahmen sind dabei nicht einmal besonders kostspielig oder aufwendig. So hat der Hamburger Konzern zum Beispiel gute Erfahrungen damit gemacht, einfach den Mittwochvormittag von Meetings freizuhalten und so Platz für einen Austausch zu schaffen.

Kollegen haben also wöchentlich den Raum dafür, sich völlig themenoffen auszutauschen, sich abteilungsübergreifend zusammenzufinden und Pläne zu entwickeln. Als Ergebnis dieser geschaffenen Freiräume entstand unter anderem die Idee für das Voice-Commerce-Projekt „Otto Action“, das einen vollwertigen Sprachassistenten für Bestellungen und Beratungen darstellt.

Jungen Unternehmen fällt offene Unternehmenskultur leichter

Besonders Start-ups und junge Unternehmen versuchen durch offene Arbeitsweisen, die Kreativität und verborgenen Talente ihrer Mitarbeiter so gut wie möglich zu nutzen. Als Vorreiter und somit gewissermaßen Best-Practice-Beispiel gilt der Internet-Telefonie-Anbieter Sipgate mit Sitz am Düsseldorfer Medienhafen. Eine beinahe überschrittene Deadline bei einem wichtigen Projekt war die Initialzündung für eine Veränderung der Arbeitsweise. Um Pannen bei fehleranfälligen Aufgaben vorzubeugen, wurde Gruppenarbeit zum Prinzip gemacht. Während also ein Mitarbeiter programmiert oder sich der Buchhaltung annimmt, schaut ihm immer mindestens ein anderer Kollege dabei über die Schulter und erkennt so frühzeitig Fehler.

Ebenso wurde ein Arbeitsalltag ohne Hierarchien erschaffen. Die komplette Selbstverantwortung liegt in den Teams und nahezu keine Entscheidung muss noch von der Führungsebene abgesegnet werden. Anfänglich noch ein Kulturschock, führten diese Änderungen zu einer inzwischen verhundertfachten Geschwindigkeit der Programmieraufgaben und einer deutlich gesunkenen Fehlerquote in den Produkten. Eine solch drastische Effizienzsteigerung ist das Ergebnis der sich stetig ändernden Unternehmenskultur, die immer wieder neu auf die Mitarbeiter zugeschnitten wird und so eine ganz eigene Mischung aus starren Prinzipien und individuellen Freiheiten beinhaltet.

Kreative Mitarbeiter fördern / Bild: Alice Achterhof auf Unsplash

Generation Y als Wegweiser

Denkt man an individuelle Freiheiten im Arbeitsalltag, ist man schnell bei der Generation Y. Zu dieser Gruppe, die man auch als Digital Natives bezeichnet, zählt man ungefähr die Geburtsjahrgänge 1980-1995. Man sagt ihnen nach, Traditionen und Abläufe in Frage zu stellen. Unzählige Studien beschäftigen sich mit den Merkmalen dieser Generation. Große Überschneidungen haben diese Studien in folgenden Äußerungen zu den Anforderungen und Wünschen der „Ypsiloner“:

  • Das Streben nach Status und materiellem Erfolg verliert an Bedeutung.
  • Spaß an der Arbeit wird dagegen wichtiger.
  • Strenge Hierarchien werden abgelehnt.
  • Mit einer guten Work-Life-Balance soll Selbstverwirklichung ermöglicht werden.
  • Persönliche Weiterbildung und Entwicklungsperspektiven im Unternehmen.
  • Ausführliches und regelmäßiges Feedback erhalten.
  • Beteiligung an firmenrelevanten Diskussionen und Entscheidungsprozessen, junge Mitarbeiter über Selbstbestimmung binden

An eben jenen Wertvorstellungen sollte sich jeder Arbeitgeber orientieren, wenn er jungen Talente binden will, denn immerhin wird die Generation Y bis 2020 rund 50 Prozent der Arbeitnehmer auf dem deutschen Markt stellen. Zudem sprechen sich auch Vertreter älterer Generationen zunehmend für eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben aus. Unternehmen müssen eine eigene Gangart finden und die Wünsche aller Arbeitnehmer kompromissbereit umzusetzen. Dabei genügt es eben nicht, wenn man die Kantine in bunten Farben streichen lässt.

Ganz besonders im Bereich Bürogestaltung kann es sich als hilfreich herausstellen, wenn man die Belegschaft direkt in die Diskussionen mit einbezieht. Schließlich verbringen diese Kollegen nachher einen Großteil Ihres Tages in den Räumen und können wichtige Impulse bei der Entscheidungsfindung liefern. So haben die Mitarbeiter zum Beispiel Gelegenheit darüber abzustimmen, ob sie für ein bestimmtes Budget lieber einen Smoothie-Maker, eine Sitzecke oder eine neue Musikanlage im Büro haben wollen.

Kulturwandel funktioniert nicht nach Schema F …

Es gibt nicht immer die eine Lösung, die für alle Unternehmen passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Dies wird auch am Beispiel Sipgate schnell deutlich. Das Unternehmen stellt sich nämlich mit einigen Maßnahmen auf den ersten Blick sogar gegen die angesprochenen Forderungen der Generation Y: So arbeitet das 120 Mitarbeiter-umfassende Team streng nach Stechuhr, um Überstunden entgegenzuwirken. Ebenso wird Arbeit im Home Office ausgeschlossen. Der Effekt ist allerdings ganz im Sinne der jungen Generation: Feste Arbeitszeiten mit wenig Überstunden begünstigen eine bessere Work-Life-Balance.  Die direkte Kommunikation unter Kollegen im Büro unterstützt den kreativen Austausch und die Ideenfindung.

Besonders im Bereich Personalmanagement schwimmt das junge Düsseldorfer Unternehmen gegen den Strom. Über Neueinstellungen und auch Entlassungen wird nicht in der Führungsebene, sondern direkt im zuständigen Team entschieden. Denn an dieser Position erkennt man frühzeitig, wie sich der Personalbedarf ändert. Ebenso wird es deutlich, wenn ein Mitarbeiter die im Bewerbungsgespräch angeführten Qualifikationen nicht im Arbeitsalltag abrufen kann. Dass derartige Änderungen nicht für jedes Unternehmen attraktiv oder umsetzbar sind, ist völlig verständlich. Aber sie zeigen, wie weitgefächert die Lösungsansätze für einen Kulturwandel sein können.

… kann aber zur Erfolgsgeschichte werden

Verschiedene Studien belegen: Gibt man Arbeitnehmern mehr Platz für eine persönliche Entwicklung und geht auf seine Wünsche an den Arbeitgeber ein, so belohnt dieser das Unternehmen mit hoher Loyalität und einer gesteigerten Produktivität. Wer sich innerhalb einer Arbeitsstruktur gut aufgehoben fühlt, ist auch bereit, mehr zu leisten. Eben jenes Gefühl sollten Unternehmen als oberstes Ziel eines Kulturwandels ansetzen. Stylische und verspielte Büroräume wirken beeindruckend und bieten das Potenzial zur Kreativitätsförderung. Wenn der frische Wind aber mehr als nur eine seichte Brise sein soll, muss Mitarbeitern mehr geboten werden: Raum für Innovationen, eine gute Work-Life-Balance und Kommunikation auf echter, gelebter Augenhöhe.

Titelbild: Norbert Braun on Unsplash

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