Geschlechtersensible Medizin: Alles Hormone, oder was?

Vor nicht sehr langer Zeit waren Frauen in den allermeisten Belangen oft nur mitgemeint. Das war zu sehen in der Sprache, im Alltag (wo etwa die Fahrzeugsicherheit am männlichen Normkörper ausgerichtet ist, da nach diesem die Crashtest-Dummies gebaut sind), vor allem aber auch in der Medizin. Das ist nun endlich im Umbruch. Frauen und ihre Bedürfnisse werden mehr und mehr gleichgestellt, geschlechtersensible Medizin ist auf dem Vormarsch. Nicht zuletzt, weil die Hälfte der Weltbevölkerung auch ein immenses Marktpotenzial bietet. Dabei geht es zum Glück nicht mehr nur um Rasierer in Rosa, sondern auch um lebenswichtige Aufklärung, Diversifizierung in Forschung und Medizin oder die Überarbeitung veralteter Rechtsprechung so wie jüngst mit der Abschaffung des Paragraphen 219a.

Von Gender Data Gap und unterschätztem Marktpotenzial 

Dass in der Medizin für lange Zeit nur für den männlichen Normkörper geforscht und entwickelt wurde, liegt in der Fortpflanzungsfähigkeit der Frau begründet. Um diese sowie schwangere Frauen und ungeborenes Leben zu schützen, schienen klinische Studien zu riskant. Daher ist der auf weibliche Körper ausgerichtete Anteil der Forschung ausgesprochen niedrig. Das nennt man Gender Data Gap. Das bedeutet, dass nicht nur Medizin, Heilmethoden und Medikation für Patientinnen nicht auf die Anforderungen ihres Körpers zugeschnitten sind, sondern sogar Fehldiagnosen entstehen. Obwohl geschätzt Ausgaben von 500 Milliarden US Dollar für medizinische Leistungen auf Frauen zurückzuführen sind, werden nur vier Prozent aller Forschungen und Entwicklungen im Gesundheitswesen speziell für die Frauengesundheit durchgeführt. Dass Frauen knapp 30 Prozent mehr für gesundheitliche Produkte und Dienstleistungen ausgeben, verdeutlicht ihr größeres Bewusstsein für Gesundheit und spricht für das große Marktpotenzial.

Digitale Technologie unterstützt bei der Regulierung des weiblichen Hormonhaushalts

Biologisch unterscheidet sich vor allem der weibliche Hormonhaushalt in hohem Maß von dem des Mannes. Ein nicht unerheblicher Teil des weiblichen Lebens wird vom Zyklus beeinflusst, von dem Fruchtbarkeit und Verhütung abhängen. Der Wunsch nach nachhaltigen und serviceorientierten Lösungen, die zum Lifestyle passen und keine radikale Hormongabe erfordern, ist vor allem in der Lebensspanne zwischen 25 und 40 groß. Hier können Digital-Health-Lösungen helfen, den Zyklus im Blick zu haben. Sie können beim Kinderwunsch unterstützen und zur Verhütung eingesetzt werden. Weitere Möglichkeiten bieten sich rund um Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Dabei kommen Apps in Verbindung mit dem Smartphone zum Einsatz, genauso wie Wearables. Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Big Data unterstützen bei der Diagnose und Analyse.

Den eigenen Zyklus genau zu kennen und einschätzen zu können, hilft dabei, die fruchtbaren wie auch unfruchtbaren Tage zu identifizieren. Dafür eignen sich vor allem Tracking-Apps, die neben der Periode auch etwa Schlaf, Hautbild, Körpertemperatur, sowie die seelische Verfassung oder Krämpfe erfassen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz entstehen immer genauere Berechnungen des Zyklus und des Eisprungs. Manche Apps bieten eine Gesundheitsassistenz oder Ratgeberfunktionen an.

Hier ein Überblick über ein paar Apps, Technologien und Gadgets, die Frau kennen sollte:

Clue

Eines der ersten und wohl bekanntesten Femtechs ist der Anbieter der Zyklus-App Clue, 2012 mitgegründet von Ida Tin, die den Begriff „Femtech“ geprägt hat. Mehr als 12 Millionen Menschen in über 190 Ländern nutzen die App, die Wissenschaft und Technologie vereint, um Menschen grundlegende, evidenzbasierte Aufklärung zu Gesundheit, Periode und Sexualität zu bieten.  Ziel ist, Aufmerksamkeit für ihren Körper und dessen Funktionen, sowie Körperbewusstsein zu schaffen und souverän mit Symptomen umgehen zu können. Dann können Frauen entsprechend aufgeklärte Entscheidungen treffen. Seit 2020 ist zum Zykluskalender auch die Schwangerschaftsbegleitung hinzugekommen.

Ovy

Seit 2016 trackt die App Ovy in Kombination mit einem Thermometer die exakte und sichere Messung der Basaltemperatur, die Aufschluss über den Hormonanstieg zum Eisprung gibt. Die Einträge weiterer Körpersignale führen zu einer sicheren Berechnung der fruchtbaren und nicht fruchtbaren Tage. Schwangerschafts- und Ovulationstests bietet Ovy über den Webshop an.

Ava

Ava aus der Schweiz ist ein Wearable, ein Armband, das im Schlaf getragen wird, mit einer Smartphone-App zum Fruchtbarkeitstracking. Das Armband erfasst zyklusrelevante Daten und wertet diese mithilfe von Algorithmen und Machine Learning aus, um die empfängnisbereitesten Tage zu ermitteln, aber auch Unregelmäßigkeiten aufzudecken. Die dazugehörige Smartphone-App stellt den Zyklus dar und unterstützt vor allem beim Kinderwunsch. 20 Prozent der Einnahmen jedes Ava Armbands gehen zudem in die Erforschung und Entwicklung der Frauengesundheit.

Inne

Inne aus Berlin ist ein „Minilab“, das die Fruchtbarkeit anhand des Progesteron-Status im Speichel misst und darüber Rückschlüsse auf Fruchtbarkeit und Eisprung zieht. Ein mit Speichel benetztes Teststäbchen wird von einem kleinen Reader (ausgezeichnet 2021 mit dem Red Dot Award) gelesen und erfasst schon geringste Hormonänderungen im Speichel. Der Reader übermittelt die Messergebnisse an die dazugehörige App. Die App stellt basierend auf den persönlichen Ergebnissen die Hormonkurve und damit Zyklus und dar.

Pregnolia

Pregnolia ist ein Messgerät zur Verbesserung der medizinischen Betreuung in der Schwangerschaft, vor allem zur Frühgeburtsdiagnostik. Gynäkolog:innen können das Gerät zur Messung der Steifigkeit des Gebärmutterhalses einsetzen, die wichtige Hinweise zur Früherkennung drohender Frühgeburten gibt. Bisher war dies nur durch manuelles Abtasten mit entsprechender Erfahrung möglich oder – zu einem späteren Zeitpunkt in der Schwangerschaft – per Ultraschall durch die Längenmessung des Gebärmutterhalses. Pregnolia ist aus einem Forschungsprojekt der ETH Zürich hervorgegangen.

Grace

Während die Zyklus-Apps vor allem das Bewusstsein für den Zyklus und beginnende Unregelmäßigkeiten durch die Perimenopause hindurch schärfen und entsprechend Verhaltenstipps geben, setzt das Wearable Grace aus England bei typischen Symptomen der Menopause an: Das Armband, das sich noch in der Planungsphase befindet, erfasst Hitzewallungen, bevor der Körper sie selbst wahrnehmen kann, und aktiviert ein Kühlpad, das das Handgelenk kühlt. Eine dazugehörige App soll Aufschluss über den Verlauf der Hitzewallungen geben.

Foto: Yaroslav Shuraev on Pexels

Femtech-Unternehmen leisten einen wichtigen Beitrag in der Forschung, da sie bisher unbekannte Daten erheben und in hohem Maße zur digitalen Gesundheitsvorsorge und -versorgung beitragen. Deshalb gehört Femtech auch zu unseren Zukunftsbranchen bei Oseon.

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Titelbild: Ksenia Chernaya on Pexels

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