Deutsche Unternehmen und die Digitalisierung

Wo stehen wir eigentlich gerade in Punkto Digitalisierung? Täglich lesen wir Meldungen zum digitalen Wandel in Deutschland. Wir erfahren von Versäumnissen der Wirtschaft und Politik, von Forderungen und Fördermöglichkeiten. Wir lesen Zahlen und Fakten aktueller Studien zum Thema digitale Transformation – wahlweise aus der Sicht der Managementebene, der CIOs, von Marketingverantwortlichen, Gründern oder gerne auch dem gesamten deutschen Mittelstand. Ein Versuch, ein wenig Ordnung in die aktuellen Erkenntnisse zu bringen:

Die Digitalisierung nimmt Fahrt auf

„Die Digitalisierung der Wirtschaft nimmt Fahrt auf“, attestierte Bitkom-Präsident Thorsten Dirks auf der diesjährigen CeBIT. „Inzwischen haben die meisten Manager die Herausforderung erkannt. Jetzt müssen die Unternehmen Tempo machen und den digitalen Wandel aktiv vorantreiben.“ Und wie sieht das in Zahlen aus? Vier von zehn im Auftrag des Bitkoms befragte deutsche Unternehmen (40 Prozent) haben im Rahmen der Digitalisierung inzwischen neue Angebote auf den Markt gebracht oder zumindest ihre Produkte und Dienstleistungen entsprechend angepasst (57 Prozent). Jedes achte Unternehmen (12 Prozent) hat aufgrund des digitalen Wandels bereits Waren vom Markt genommen oder Dienstleistungen eingestellt. Es bewegt sich also was – wenn auch im internationalen Vergleich noch immer langsam.

Berufsbild Chief Digital Officer – oder wer gibt die Richtung an?

Denn die Studie zeigt, wie viele andere auch, dass die meisten Unternehmen nicht richtig auf den digitalen Wandel vorbereitet sind. Es mangelt an einem Plan, wie die digitale Sache anzupacken ist. Ein Viertel (28 Prozent) hat noch immer keine Digitalstrategie.

Ähnliches brachte auch eine Studie von T-Systems Multimedia Solutions zu Tage, etwa im Hinblick auf den Umgang mit Big Data: Ein Hindernis, eine ordentliche Strategie für die Digitalisierungsfragen zu entwickeln, liegt in den ungeregelten Verantwortlichkeiten in vielen Unternehmen: Jedes vierte Unternehmen hat etwa keinen konkreten Ansprechpartner für Big Data. Dabei ist das ein Bereich, der mit seinem Potenzial deutlich im Zentrum der Digitalisierung steht. So sehen die Befragten die Zuständigkeit für dieses Kernthema in unterschiedlichen Händen: beim CIO (19 Prozent), beim CMO (15 Prozent), beim CEO (14 Prozent) oder bei sonstigen Führungskräften.

Wer soll da den Ton angeben und sagen, wo es lang geht? Der Bitkom fordert, das betriebswirtschaftliche und technische Know-how zum Beispiel in der Rolle eines Chief Digital Officers zusammenzuführen. Hierzulande ist dieses Berufsbild noch eher unbekannt; lediglich zwei Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern leisten sich bereits einen CDO.

Industrie 4.0: Start mit gezogener Handbremse

Dabei sind die Erwartungen hoch. Besonders in der Industrie, einem Kernkompetenzfeld der deutschen Wirtschaft, erwarten die Unternehmen, dass bis 2020 über 80 Prozent ihrer Wertschöpfungskette einen hohen Digitalisierungsgrad aufweist. Dazu wollen sie jährlich 40 Milliarden Euro in die Anwendungsentwicklung stecken, wie PwC zusammen mit Strategy& ermittelt hat. Die Studie befragte 235 deutsche Industrieunternehmen aus den Branchen Automobilzulieferer, Maschinen- und Anlagenbau, aus der Elektrotechnik/Elektronik, Prozessindustrie sowie der Informations- und Kommunikationsindustrie zu ihren Erwartungen. Die Vision: Durch die Digitalisierung und zunehmende Vernetzung von Produkten und Services wollen Unternehmen ihre Umsätze um durchschnittlich 2,5 Prozent pro Jahr erhöhen. Dies entspricht auf die gesamte Industrie bezogen einem Umsatzpotenzial von über 30 Milliarden Euro pro Jahr.

Industrie 4.0 bezeichnet die Digitalisierung der gesamten herstellenden Industrie, etwa durch integrierte Sensoren in Produkten und ihren Komponenten, Produktionsmaschinen oder Datenanalyse. In der aktuellen Studie Industry 4.0 – How to navigate digitization of the manufacturing sector von 2015, beleuchtet das Beratungsunternehmen McKinsey den Status Quo der digitalen Transformation in der Produktion in den Industrienationen Deutschland, USA und Japan.

Zu wenig Geld für die Forschung

91 Prozent der befragten deutschen Unternehmen haben begriffen, dass die Zukunft in der Digitalisierung liegt. Aber nur zehn Prozent fühlen sich auf diese schöne neue Welt auch vorbereitet. „Viele Unternehmen fangen erst jetzt an, sich konkret mit Industrie 4.0 auseinanderzusetzen: Vorteile neuer Technologien wie dem 3D-Druck, Big Data und dem Internet der Dinge werden zu oft als Risiko und nicht als Chance gesehen, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen“, fasst Detlef Kayser, Direktor bei McKinsey und Co-Autor der Studie, die Lage zusammen. Deutsche Unternehmen stecken gerade mal 14 Prozent ihrer Forschungsgelder in Projekte rund um Industrie 4.0, obwohl sie sich von den neuen Prozessen Produktivitätssteigerungen von mehr als 20 Prozent erhoffen. Doch von nichts kommt nichts. Und die Möglichkeiten der Digitalisierung öffnen Konkurrenten aus anderen Branchen Tür und Tor, mit innovativen Geschäftsideen in Nachbarmärkten wildern zu gehen.

Digitalisierung in Unternehmen: Hier muss angepackt werden

Aus diesen und anderen Erkenntnissen leiten die Autoren der Studie fünf Handlungsfelder ab, denen Unternehmen ihre Aufmerksamkeit schenken sollten:

1. Bessere Nutzung von Big Data

Bessere Nutzung von Daten, um Wertschöpfungskette und Lifecycles von Produkten digital dazustellen und zu verarbeiten – zum Beispiel im Bereich Wartung oder Produktivitätssteigerung von Maschinen. Laut der Studie IT-Trends 2016 von Capgemini hat die Big-Data-Nutzung im vergangen Jahr erneut zugenommen. Rund 24 Prozent der befragten CIOs gaben an, mehrere oder eine Big-Data-Anwendung zu nutzen. Vorreiter in Sachen Big-Data-Einsatz ist noch immer die Finanzbranche, doch Capgemini sieht inzwischen durchaus auch das produzierende Gewerbe und die Automobilindustrie im Aufwind. Bei den meisten Unternehmen (rund 63 Prozent) steht die Prozessoptimierung entlang der Wertschöpfungskette im Hinblick auf Kundenbedürfnisse, Qualität und Effizienz im Vordergrund. Fast die Hälfte der Befragten, vor allem aus der Industrie und Finanzbranche, wollen mit Big Data aber auch neue Geschäftsmodelle entwickeln. Für etwa 46 Prozent steht die Verbesserung des Einkaufs- und Service-Erlebnisses für ihre Kunden an erster Stelle.

2. Mehr Investition in Mitarbeiterkompetenz

Investition in die Weiterbildung und Rekrutierung von kompetenten Mitarbeitern. Auch Capgemini bestätigt, dass der Fachkräftemangel eine der größten Hürden der Digitalisierung ist: „Es fehlen vor allem Mitarbeiter, die sich mit Internet-of-Things(IoT)-Technologien, Datenauswertung und Analyse sowie mobilen Technologien auskennen.“ Die Anzahl derjenigen, die Probleme bei der Digitalisierung haben, ist unter anderem auch wegen des gravierenden Fachkräftemangels von 41 auf 60 Prozent gestiegen – so die Studie.

3. Enger Kontakt mit Kunden

Optimierung des Kundenkontakts beziehungsweise der Kundenbindung, um am Ball zu bleiben und möglichst wenig Marktanteile an Wettbewerber zu verlieren.

4. Schnellere IT

Investition in schnellere IT, um die eigene Agilität der von Startups anzupassen sowie Produktverbesserungen schneller umsetzen zu können.

5. Fokus auf Datensicherheit

Erhöhung der Datensicherheit zur Abwehr von Cyberangriffen – besonders angesichts der zunehmenden Vernetzung. Capgemini zufolge schätzen CIOs, dass „die Sicherheit ihrer Systeme auf einer Skala von 0 bis 10 bei 7,04 liegt. Nur knapp fünf Prozent der Befragten stufen ihr Unternehmen als komplett gegen Cyberangriffe geschützt ein.“

Speziell für den Mittelstand hat der Bitkom anlässlich der CeBIT 2016 einen Praxisleitfaden herausgegeben. „In 10 Schritten digital“ fasst knapp und verständlich zusammen, worauf Unternehmen im Sinne ihrer Zukunftsfähigkeit heute achten sollten.

Gründerszene: Wo sind Europas „Unicorns“?

Ergänzend dazu liefert der im Juni 2016 gelaunchte Bericht Digital Europe des McKinsey Global Institutes (MGI) Zahlen zum wirtschaftlichen Potenzial der Digitalisierung in Deutschland: „Wenn Deutschland sein digitales Potenzial optimal nutzen würde, könnte das Bruttoinlandsprodukt bis 2025 um einen Prozentpunkt jährlich zusätzlich wachsen – das sind umgerechnet insgesamt rund 500 Milliarden Euro“, erklärt Karel Dörner, Seniorpartner bei McKinsey. 500 Milliarden, die die deutsche Wirtschaft gerade noch verschenkt, denn sie nutzt nur zehn Prozent ihres digitalen Potenzials. Im Hintertreffen liegen bei der Digitalisierung auch in Deutschland vor allem die Fertigungsindustrie. Aber auch vorwiegend staatliche Sektoren wie Gesundheits- und Bildungswesen hinken hinterher. Gleiches gilt für eher lokal aufgestellte Branchen wie die Bauwirtschaft und das Hotelgewerbe.

Gerade in der eigentlich so vielversprechenden Gründerszene hinkt Europa den USA noch hinterher. „Natürlich gibt es auch in Europa erfolgreiche Startups oder etablierte Unternehmen, die sich erfolgreich digitalisiert haben“, räumt Dörner ein. Berlin, London, Paris oder Stockholm können aber nach wie vor mit San Francisco oder New York nicht mithalten. Keines der nach Marktkapitalisierung 20 größten Internetunternehmen stammt aus Europa.

Digitalisierung ist auch Thema der Politik

Auch das Beratungshaus Accenture sieht hier wichtige Ansatzpunkte: „In Deutschland sehen wir sowohl in den Unternehmen, als auch bei der digitalen Infrastruktur und den regulatorischen Rahmenbedingungen Handlungsbedarf“, so Clemens Oertel, Geschäftsführer bei Accenture Strategy. „Ob flexiblere Arbeitsmodelle oder digitale Formen der Zusammenarbeit, deutsche Unternehmen tun sich beispielsweise schwer, vom Mantra der physischen Präsenz am Arbeitsplatz Abschied zu nehmen. Zugleich verfügen wir hierzulande über eine stark unterdurchschnittliche Versorgung mit Breitband- und mobilem Internet. Insgesamt sind Unternehmen und Politik gleichermaßen gefordert.“ In seinem Digital Density Index erfasst Accenture den Grad der Digitalisierung einzelner Unternehmen und der Gesamtwirtschaft und formuliert zudem Leitlinien zur Förderung der Digitalen Transformation.

Sinnvolle Fördermöglichkeiten

Neben den bereits oben genannten Handlungsfeldern für Unternehmen kommen weitere Baustellen hinzu, bei denen sich auch Regierungen und Verwaltung einbringen müssen. Sinnvolle Fördermöglichkeiten der Digitalisierung wären:

  • ein Anpacken des Dauerbrenners Breitbandausbau in Deutschland und die Schaffung von mehr Hotspot-Standorten, die die Entwicklung und das Wachstum digitaler Geschäftsmodelle infrastrukturell fördern.
  • die Schaffung der regulatorischen Rahmenbedingungen – etwa eines europäischen digitalen Binnenmarktes und die stärkere Nutzung von E-Government.
  • verstärkter Kompetenzausbau auch von Nachwuchskräften im Rahmen von Bildungsinitiativen.
  • mehr Toleranz und weniger Restriktionen seitens der Behörden für disruptive Geschäftsmodelle, Stichwort AirBnB oder Uber.

Der Bitkom schlägt vor, die digitale Transformation mit der Gründung von „Digital Hubs“ für die Leitbranchen der deutschen Wirtschaft voranzutreiben. Die großen Player der deutschen Wirtschaft sollen ein „digitales Ökosystem“ schaffen. Gemeinsam mit dem Mittelstand, Gründern, IT-Unternehmen und dem Bildungswesen. „Wir müssen unsere Kräfte bündeln und digitale Schwerpunkte mit internationaler Strahlkraft schaffen“, so Thorsten Dirks. „Es genügt nicht, nur zu vernetzen, was schon da ist. Wir brauchen einen Neuanfang in der Innovationspolitik, um zu den weltweit führenden Standorten der digitalen Wirtschaft aufschließen zu können.“ 

Wir bleiben dran.

Titelbild: Tekton on Unsplash

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